«Ich bin zutiefst betrübt, dass in einigen Staaten Notstandsverordnungen beschlossen wurden, die auf unbestimmte Zeit gelten und keine Überprüfungsmöglichkeiten zulassen. In manchen Fällen wird die Epidemie als Begründung für repressive Änderungen der Gesetzgebung verwendet, die in Kraft bleiben werden, lange nachdem der Ausnahmezustand vorbei ist.»– Michelle Bachelet, Hohe Komissarin für Menschenrechte der Vereinten Nationen
Die COVID-19 Pandemie ist ein weltweites Problem, das zu einer Einführung von Dringlichkeitsmaßnahmen seitens einzelner Staaten geführt hat, mit dem Ziel, die Verbreitung der Erkrankung aufzuhalten. Viele Bürger sind über die erzwungenen Einschränkungsmaßnahmen besorgt, denn um die Infektion zu stoppen haben sich viele Staaten dazu entschlossen, die Grundrechte der Menschen einzuschränken, einschließlich ihrer Digitalrechte und der Bewegungsfreiheit.
Wir sehen die Achtung der Digitalrechte als eine grundlegende Bedingung für die Gewährleistung der Unatastbarkeit der Privatsphäre, der Meinungsfreiheit, der Bewegungsfreiheit, und anderer Grundrechte an, und zwar unabhängig davon, wie außergewöhnlich die gegebene Situation ist. Der Ausgleich zwischen den Grund- und Freiheitsrechten und den in den einzelnen Staaten eingeführten Beschränkungsmaßnahmen spielt eine entscheidende Rolle für die psychische und emotionale Gesundheit der Menschen, das Sicherheitsgefühl, und den sozialen Frieden in der Gesellschaft.
Moderne Technologien müssen als Mittel angesehen werden, um die Kommunikationsfreiheit und den informationellen Austausch zu stützen sowie die Bekämpfung des Coronavirus zu erleichtern. Gleichzeitig besteht die Gefahr, dass dadurch Grundrechte verletzt werden. Wir rufen alle Staaten daher auf, Technologien zur Überwachung und Bewegungserfassung der Bürger (invasive Überwachungstechnologien) ausschließlich im Rahmen der geltenden Gesetze einzusetzen und die Wahrung der Grundrechte zu gewährleisten. Eine solche Verpflichtung zur rechtmäßiger Nutzung digitaler Technologien beugt deren Missbrauch vor und verringert die Anzahl von zivil- und strafrechtlichen Auseinandersetzungen in diesem Bereich.
Die neuen Handlungsoptionen des Staates, die durch die Fortentwicklung von Technologien und die Zugriffsmöglichkeit auf Standortdaten von mobilen Geräten eröffnet werden, schaffen eine Bedrohung für die Unantastbarkeit der Privatsphäre, die Bewegungsfreiheit, die Versammlungsfreiheit und das Recht, seinen Wohnsitz frei zu wählen. Damit können sie das Vertrauen der Bürger in staatliche Institutionen untergraben.
Entscheidungen zur Einschränkung von Bürgerrechten und darunter auch Digitalrechten, die der Staat heute trifft, werden die zukünftige Realität beeinflussen und sich somit auf die Lebensqualität und die Gesundheit jetziger und kommender Generationen auswirken.
Wir erkennen die Gefahr und das Missbrauchspotential, die in Einschränkungen der Bürgerrechte liegen, und sind zutiefst besorgt über den steigenden Umfang der Einschränkungen der Digitalrechte. Zugleich unterstützen wir die Bestrebungen, die Covid-19-Pandemie einzudämmen. Aus diesen Gründen rufen wir alle Staaten, vertreten durch deren zuständige Organe, dazu auf, folgende Grundsätze einzuhalten:
Der Staat muss jedem Bürger das Recht einräumen, sich invasiver Überwachungstechnik zu verweigern sowie die Verarbeitung von Daten bezüglich der eigenen Person, die mithilfe solcher Technik gesammelt wurden, zu untersagen. Willigt der Bürger der Verwendung invasiver Überwachungstechnologien ein, muss dieses Einverständnis informiert, freiwillig, bezogen auf konkrete Techniken, und widerrufbar sein.
Die Einschränkung der Digitalrechte, einschließlich der Benutzung invasiver Überwachungstechnik, darf ausschließlich auf der Basis von rechtmäßig beschlossenen Gesetzen stattfinden, deren Ziel der Schutz der Gesundheit der Bevölkerung ist. Die Einschränkungen müssen verhältnismäßig sein und sollten nur bei unzweifelhafter Notwendigkeit eingesetzt werden.Falls der Staat Vereinbarungen trifft, personenbezogene Daten der Bürger anderen staatlichen oder kommerziellen Akteuren zur Verfügung zu stellen, müssen diese Vereinbarungen eine feste Gesetzesbasis haben und mögliche Grundrechtsverletzungen berücksichtigen. Außerdem müssen alle Handlungen, die der Staat im Bezug auf personenbezogene Daten unternimmt, der Bevölkerung offen und transparent kommuniziert werden.
Der Staat hat offen zu kommunizieren, welche Maßnahmen zur Einschränkung von Bürgerrechten unternommen werden und welche Folgen diese Maßnahmen haben. Zudem müssen notwendige statistische Untersuchungen durchgeführt werden, um zeitnah über eine Änderung oder Einstellung unzumutbarer Maßnahmen zu entscheiden. Bei Bedarf sollten unabhängige Experten zur Beurteilung der Effektivität der Maßnahmen sowie der Vorbeugung von Missbrauch, herangezogen werden, wobei stets der Schutz personenbezogener Daten beachtet werden muss.
Sollte eine Einschränkung von Digitalrechten notwendig sein, muss diese für einen klar definierten Zeitraum eingeführt werden und ausschließlich der Verhinderung der Ausbreitung des SARS-CoV-2-Virus dienen. Der Coronavirus darf nicht als Vorwand genutzt werden, dauerhaft Bürgerrechte einzuschränken.
Die Regierung hat zu gewährleisten, dass Sammlung, Zusammenführung und Speicherung der personenbezogenen Daten der Bürger, einschließlich der Gesundheitsdaten, ausschließlich zur Verhinderung der Ausbreitung des SARS-CoV-2 Virus durchgeführt werden. Die Nutzung der gesammellten, zusammengeführten und gespeicherten Daten darf nur zeitlich beschränkt und mit dem Ziel, der Verbreitung der Infektion entgegegnzuwirken, stattfinden. Andere Nutzungen, beispielsweise zu kommerziellen Zwecken, müssen ausgeschlossen sein.
Nach Ablauf der vorab festgelegten Zeitperiode oder der Erreichung des gesetzten Ziels müssen die gesammelten Daten unverzüglich gelöscht werden.
Der Staat hat alle notwendigen Vorkehrungen zu treffen, um die Sicherheit der gesammelten personenbezogenen Daten (Standort, Bewegungsmuster, Abbildungen usw.) zu gewährleisten. Das trifft auch auf die Nutzung jeglicher Geräte, Anwendungen, Netze und Dienste zu, die zur Sammlung, Übertragung, Verarbeitung und Speicherung der Daten dienen.
Die Einschränkungen der Digitalrechte darf sich nicht auf Angehörige sozialer Minderheiten, finanzschwacher oder anderweitig benachteiligter Schichten der Bevölkerung beschränken, um die Vergrößerung der Kluften zwischen unterschiedlichen sozialen Schichten zu vermeiden. Die Einführung von Einschränkungen darf nicht gegen Personengruppen auf Basis derer Rasse, Nationalität, Religion, oder anderen Eigenschaften gerichtet sein.
Entscheidungen über die Nutzung und Verarbeitung der gesammelten personenbezogenen Daten dürfen nicht ausschließlich den Sicherheitsbehörden vorbehalten sein, sondern müssen auch die Mitsprache von Vertretern der Zivilgeselschaft zulassen, insbesondere, wenn es um Einschränkungen von Bürgerrechten geht. Die Beteiligung der Öffentlichkeit dient der Vorbeugung von Missbrauch und bietet eine Möglichkeit, übermäßige Einschnitte in die Rechte und Freiheiten zu vermeiden.
Um diese Grundsätze umzusetzen laden wir alle interessierte Personen und Organisationen ein, gemeinsam für die Beibehaltung der vorrangigen Bedeutung von Grundrechten einzustehen.